Die Pathologie ist keine Blackbox mehr
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2022
Die Digitalisierung der Pathologie gehört zu den spannendsten Entwicklungen und Forschungsbereichen in der modernen Medizin. Welche Vorteile das für Patientinnen und Patienten bringt und wie sich das Berufsfeld dadurch verändert, erklärt uns einer der Pioniere auf diesem Gebiet
Text: Olaf Scheel
Herr Prof. Wild, was sehen Sie als Motivation und als Treiber für eine Digitalisierung in der Pathologie?
Ein Treiber ist sicherlich der demografische Wandel in unserer Gesellschaft insgesamt. Denn daraus folgt, dass es immer weniger Pathologen und auch grundsätzlich immer weniger Ärzte geben wird. Auf der anderen Seite sind da aber auch durch die gestiegene Lebenserwartung immer mehr ältere Menschen, die anfälliger für Krankheiten und Beschwerden sind. Eine zweite Motivation für die Digitalisierung in der Pathologie und die „Computational Pathology“ ist schlicht der große Vorteil der Technologie. Wir Menschen sind zwar sehr gut darin, Muster zu erkennen, aber bei der Quantifizierung ist die Software besser. Das sieht man zum Beispiel bei der Bewertung der Ki-67-Färbung beim Mammakarzinom, wo es bei unterschiedlichen Fachleuten und Experten zum Teil starke Abweichungen in der Beurteilung geben kann. Um das zu vereinheitlichen und eine gewisse Robustheit in der Bewertung zu bekommen, ergibt die Digitalisierung eben durchaus Sinn.
Gibt es darüber hinaus noch weitere Vorteile?
Ein großer Vorteil ist, dass die Pathologie durch die Digitalisierung ihre Befunde viel besser sichtbar machen kann. Beispielsweise haben wir im vergangenen Jahr im Tumorboard 10.000 Patienten besprochen. Dabei wurden nur in Ausnahmefällen histologische Bilder gezeigt, weil deren Erstellung bislang sehr aufwendig war und das bei einer solchen Menge schlichtweg nicht möglich ist. Durch die Digitalisierung und die entsprechende Software können Pathologen histologische Bilder aber ohne viel Aufwand erstellen und diese ihren Patienten zeigen, wie das zum Beispiel in der Radiologie üblich ist. Und auch die Kollegen in den Kliniken sind übrigens in der Lage, ein histologisches Bild zu erklären. Das ist ein großer psychologischer Effekt, der nicht unterschätzt werden sollte. So kann ein Patient die Tumormetastase oder einen Tumor auch mal sehen, um das zu glauben und besser zu verstehen, was ihm der Arzt erzählt. Früher war die Pathologie oft wie eine Blackbox, bei der zwar eine Diagnose rauskam, die aber nicht gut sichtbar erklärt werden konnte.
Die Digitalisierung hat also große Vorteile für die Pathologie in der Praxis, aber wie wirkt sie sich auf die Lehre aus?
Es ist hier so, dass wir angetrieben durch die COVID-19-Pandemie bereits jetzt eine beinahe komplett digitalisierte Lehre haben. Schließlich sind die meisten Studierenden zu Hause im Homeoffice. Am klassischen, analogen Mikroskop arbeiten wir nur noch mit jenen, die das explizit anfragen. Beispielsweise haben wir einen Kurs mit 400 Studierenden, bei dem das Mikrospieren erlernt wird – doch mikroskopiert wird dabei komplett digital. Des Weiteren können Vorlesungen „on demand“ heruntergeladen werden, und das wird von der Studentenschaft auch extrem gut angenommen. Es ist in diesem Zusammenhang etwas mehr Freiheit für die Studierenden entstanden. Übrigens lässt sich insgesamt sagen, dass die Pathologie auch durch den molekularen Forschungsanteil mit der Digitalisierung ein sehr modernes Fach geworden ist.
Ist es eigentlich vorstellbar, dass Pathologen in Zukunft aus dem Homeoffice arbeiten könnten?
Komplett kann dieser Beruf auf absehbare Zeit sicherlich nicht aus dem Homeoffice ausgeübt werden. Das wäre erst möglich, wenn eine echte Telepathologie umgesetzt ist, was zum jetzigen Zeitpunkt aber noch Science-Fiction ist. Das ist aber auch nicht gemeint, wenn wir aktuell von der Digitalisierung der Pathologie sprechen. Für mich geht es dabei zunächst vor allem um einen digitalen Workflow, zum Beispiel mit Blick auf eine softwaregestützte Vereinfachung der Verwaltung wie etwa Abrechnungen oder Bestellungen. Denn wenn wir wirklich von A bis Z einen komplett digitalen Prozess haben, kann dieser besser verstanden, gesteuert und effizienter gestaltet werden. Und daneben geht es darum, die Laufwege zu reduzieren, damit wir nicht mehr auf Papier ausgedruckte Befunde oder Glasobjektträger zeit- und ressourcenaufwendig herumtragen oder verschicken müssen. Früher musste bei uns am Institut wirklich jemand mehrfach von Haus 9 zu Haus 6 laufen, bis alle Informationen vorlagen. Heute erfolgen Dinge wie die Markierung für die Makrodissektion des Gewebes oder die Entnahme der Tumor-DNA zunehmend digital. Mit fortschreitender Digitalisierung wird es dann für Pathologen vielleicht möglich sein, bestimmte Aufgaben aus dem Homeoffice zu erledigen. Ich persönlich fände das auch mal ganz schön.
Verändert die fortschreitende Digitalisierung nicht auch die Anforderungen für den Beruf insgesamt?
Ja, das kann man so sehen. Viele Assistenzärztinnen und Assistenzärzte oder auch Studierende, die sich jetzt um eine Doktorarbeit bei mir bemühen, sind schon erstaunt, dass wir eigentlich mehr IT-Kenntnisse fordern als klassische Pathologiekenntnisse. Ich habe einige Doktoranden, die sich auch sehr gut mit Programmierung auskennen und die sich tiefgreifendes Wissen in der Bildanalytik aneignen konnten. Durch die Digitalisierung wird die Pathologie also deutlich attraktiver für Spezialisten, die ich früher nicht für unser Institut hätte gewinnen können.
Welche Auswirkungen hat das auf die Ausrüstung und das Equipment an Ihrem Institut?
Mit dem Aufstellen eines Slide-Scanners ist es nicht getan. Die I T-Abteilungen müssen sehr gut aufgestellt sein. Um in den digitalen Prozess einzutreten, wird wegen des erhöhten Datenvolumens zunächst eine leistungsfähige Netzwerkinfrastruktur benötigt. Bei uns am Institut wurden das LAN- und das Stromnetzwerk modernisiert, was uns sehr schnelle Übertragungsraten ermöglicht. Aber das hat einige Zeit gedauert. Wir haben in unserem Haus das Glück, in der IT über sehr kompetente und motivierte Mitarbeiter zu verfügen. Darüber hinaus braucht die digitale Pathologie spezialisierte Hightechgeräte von einem Industriepartner, der einen unterstützt und die gleiche Vision mitträgt. Deswegen bin ich sehr froh über die Zusammenarbeit mit Sysmex. Wir haben jetzt zum Beispiel richtig gute Gewebescanner, aber auch Grafikkarten und Monitore wie etwa die EIZO-Bildschirme – dadurch wird die Visualisierung deutlich verbessert. Es wird auch sehr interessant sein, zu sehen, wie Ärztinnen und Ärzte mit den immer besseren digitalen Tools umgehen werden. Als ich das erste Mal ein histologisches Bild auf einem High-End-Monitor mit einer 4k-Auflösung geöffnet habe, konnte ich das gesamte Bild auf einmal in voller Tiefenschärfe sehen, da diagnostiziert man ganz anders. Schon in den nächsten zwei Jahren wird es sehr spannend sein, zu sehen, wie das medizinische Personal das umsetzt. Also ob hier zum Beispiel eher mit einer Maus oder einem analogen Drehsystem wie bei einem Mikroskop gearbeitet wird.
Was ist Ihnen bei der Auswahl eines Industriepartners wichtig?
Entscheidend ist für mich natürlich erst einmal die Zukunftsfähigkeit. Wir benötigen in unserem Institut ein robustes Laborinformationssystem, das uns auch die Möglichkeiten gibt, digitale Prozesse zu entwickeln und digital zu arbeiten. Durch die neue Software ist es uns nun möglich, sämtliche Algorithmen, die künftig auf den Markt kommen werden, in unser System zu integrieren. Und dank der modularen Diagnostiklösung von Sysmex sind wir dabei nicht von einem Anbieter abhängig, sondern können uns immer weiterentwickeln. Daneben muss selbstverständlich auch das Preis- Leistungs- Verhältnis stimmen, also die echten Kosten pro Fall, und es muss gute Serviceverträge geben. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Umstellung vom Medizinproduktegesetz zu den neuen IVDR- Regularien. Das traue ich nur bestimmten, sehr erfahrenen Anbietern auf dem Markt zu. Das war auch e in Grund, warum wir uns für Sysmex und eine IVDR-konforme Lösung entschieden haben.
Wie verlief die Umstellung auf das neue System im praktischen Arbeitsalltag?
Es war sicherlich ein Lernprozess, aber dank der guten Zusammenarbeit mit Sysmex und unserer IT-Abteilung haben wir das gut gemeistert. Bei uns an der Klinik haben wir Verträge und Servicelevel Agreements aufgesetzt, auf deren Basis virtuelle Maschinen erstellt wurden, die im klinischen Kontext Daten speziell absichern. Auch die IT-Erfahrung von Sysmex im Labor- und Krankenhausumfeld war sehr hilfreich. Oft konnten wir erst bei der praktischen Umsetzung die einzelnen Projektschritte genau definieren, weil die Anforderungen und Komplexität dann für alle Beteiligten deutlich geworden sind und entsprechend auch die Lösungen. Im Fall des Scanners zum Beispiel ist schnell klar geworden, dass die Systemarchitektur eigentlich viel wichtiger ist als das genaue Modell. Hier war es sehr gut, einen Partner zu haben, der viel Erfahrung damit hat.
Was erwarten Sie von der Digitalisierung in der Pathologie in der Zukunft noch für Fortschritte?
Ich glaube, dass wir eine echte „Computational Pathology“ erreichen können. Dafür muss es uns aber gelingen, auf Basis des Phänotyps den Genotyp vorherzusagen. Auf diesem Forschungsfeld, zum Beispiel im Bereich der MSI-Diagnostik, existieren bereits sehr gute Publikationen auch von deutschen Kolleginnen und Kollegen. So wurde herausgefunden, dass es bestimmte Features in histologischen Bildern gibt, die eine molekulare Veränderung vorhersagen können. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir mit unserem Wissensstand da noch lange nicht am Ende sind. Ein nächster Schritt wäre dann, dass wir disziplinübergreifend arbeiten, also zum Beispiel nicht nur pathologische, sondern auch radiologische Daten in die Systeme integrieren. In diesem Fall könnte zum Beispiel das molekularpathologische Ergebnis in der Software sowohl in der Arbeitsoberfläche des Pathologen als auch des Klinikers integriert sein. Von so einem einheitlichen digitalen Prozess sind wir derzeit noch entfernt.
Summary
- Die Digitalisierung in der Pathologie bringt für Patientinnen und Patienten sowie die medizinische Arbeitsweise große Vorteile, zum Beispiel eine schnellere und genauere Diagnostik mithilfe von Software sowie eine bessere Visualisierung
- Dafür sind computergestützte und hochmoderne Diagnostiksysteme nötig, die an den Instituten, Kliniken und auch beim medizinischen Personal selbst mehr IT-Wissen voraussetzen als bisher
Prof. Dr. med. Peter J. Wild
Peter Wild ist einer der Begründer der Computational Pathology. Seit 2018 ist der habilitierte Pathologe Direktor am Dr. Senckenbergischen Institut für Pathologie (SIP) am Universitätsklinikum Frankfurt, das Diagnostik und Forschung an Gewebeproben und Zellen durchführt. In dieser Zeit konnte sich das SIP als eines der ersten digitalen Institute für Pathologie etablieren. Darüber hinaus ist Peter Wild angestellter Arzt im Labor der Universitätsklinikum Frankfurt MVZ GmbH für klinische, molekulare und digitale Pathologie und forscht als Senior Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies. Vor seiner Zeit in Frankfurt leitete er am Universitätsspital Zürich das „High-Throughput Genomics and Proteomics Laboratory“
Fotoquelle: Felix Schmitt