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Vom Novum zur Norm

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2024

Wie erweiterte Blutbildparameter von Sysmex Einzug in Klinikroutinen finden und die Behandlung reformieren können

TEXT TOM RADEMACHER
FOTOS ANDREA SEIFERT

Erweiterte Blutbildparameter haben das Zeug, die Intensivmedizin zu verbessern. Weil im hektischen Alltag gerade dieser Abteilungen oft wenig Zeit für neue Routinen bleibt, machen bislang noch wenige Behandelnde davon Gebrauch. Dass das im niedersächsischen Vechta anders ist, verdankt man einem einfachen Telefonanruf.

Monika Bokop, die leitende medizinische Technologin im Labor des St. Marienhospitals in Vechta, erinnert sich genau: Es war 2020, als Anke Heidelmann, die zuständige Applikationsspezialistin von Sysmex, die Installation und Schulung des neuen XN-1000 in der Hämatologie betreute. „Wir kamen von einem anderen Gerät, Sysmex war ganz neu für uns“, sagt Bokop. Gleich zu Beginn hätten ihr und dem Team die Qualität in der Differenzierung der Leukozyten gefallen, insbesondere auch das Erkennen der NRBCs (Nucleated Red Blood Cells), die in der Arbeit mit Neugeborenen so wichtig sind. „Die Fluoreszenz-Messungen können uns außerdem noch zusätzliche Infos geben, zum Beispiel eine genauere Trennung der Subpopulationen der Leukozyten und die erweiterten Parameter zur Überwachung der Immunantwort“, schwärmt Bokop.

Anke Heidelmann übernimmt 2006 als Applikationsspezialistin für Sysmex die fachlichen Schulungen für die Anwendenden. Dazu gehört sehr viel mehr als Gerätebedienung, Qualitätskontrolle und Wartungsthemen. „Mir liegt viel daran, auch Messprinzipien und Befundinterpretationen zu vertiefen und über neue Parameter sowie deren Bedeutung und ihren diagnostischen Mehrwert zu informieren“, erklärt Heidelmann.

Besonderes Interesse erweckte bei Monika Bokop damals dann ein ganz neuer Parameter, den die Sysmex Applikationsspezialistin der Laborleiterin gezeigt hatte: das Retikulozyten-Hämoglobin-Äquivalent, kurz RET-He. Dieser Wert gibt den Hämoglobingehalt der Retikulozyten an und ist ein nützlicher Parameter zur Diagnose und Therapiekontrolle bei Eisenmangelanämie. „Da wir sehr aktiv im Patient Blood Management sind, dachte ich sofort, dass das RET-He wichtig für Professor Hönemann in der Anämie-Ambulanz sein könnte“, sagt Bokop. „Ich habe ihn direkt kontaktiert und dann den Kontakt zu Sysmex hergestellt, weil er noch weitere Fragen hatte.“ Es sollte ein Anruf mit weitreichenden Folgen werden.

„MITTLERWEILE AUSSCHLIESSLICH“

Prof. Christian Hönemann, Chef- und Facharzt für Anästhesiologie und spezielle Intensivmedizin am St. Marienhospital, erkannte das Potenzial schnell: „RET-He zeigt mir, wie die Erythropoese eines Patienten in den vergangenen drei Tagen ausgesehen hat und ob er unter einem aktuellen Eisenmangel leidet“, erklärt der Mediziner. Seither nutzt er den Parameter präoperativ im Patient Blood Management zur Entscheidung, ob und welche Eisentherapie nötig ist. Patientinnen und Patienten vor großen Operationen, bei denen das Risiko einer Bluttransfusion erfahrungsgemäß über fünf Prozent liegt, stellen sich heute in der Regel zwei bis drei Wochen vor der OP im St. Marienhospital vor und bringen schon ein Blutbild der hausärztlichen Praxis mit. Liegt die Hämoglobinkonzentration unter 13, geht Hönemann selbst ins Labor, um am XN-1000 persönlich RET-He, das mittlere korpuskuläre Hämoglobin (MCH) und den Retikulozytenproduktionsindex (RPI) zu überprüfen. „Wenn alles niedrig ist, dann hat der Patient einen fulminanten Eisenmangel, bekommt sofort Eisen intravenös und ist damit gut auf die OP vorbereitet“, so Hönemann. So weit, so einfach.

JAHRZEHNTE GEWARTET

Auf der Intensivstation in Vechta hat man derweil noch mehr Nutzen im RET-He entdeckt: „Insbesondere in der postoperativen Phase ist RET-He ein superwichtiger Parameter“, bestätigt Hönemann. „Er gibt mir beim Monitoring Hinweise, wie sich die Akute-Phase-Reaktion des Patienten im Krankheitsverlauf entwickelt.“ Das Besondere: Herkömmliche biochemische Marker für den Eisenstatus wie Serumeisen, Transferrin oder Ferritin werden von der Akute-Phase-Reaktion oft stark gestört und liefern zum Teil irreführende Werte. Nicht so RET-He. Er bleibt gerade in dieser kritischen Phase ein aussagekräftiger Indikator, was für viele Patientinnen und Patienten entscheidend sein kann.

Dass nicht nur der Professor in Vechta seit Jahrzehnten auf solch ein verlässliches Werkzeug gewartet hat, zeigt die Resonanz auf seine ersten Veröffentlichungen zum Thema: „Ich bekomme mindestens einmal pro Woche eine Anfrage – aus Deutschland und aller Welt“, berichtet Hönemann. „Die Fragen drehen sich meistens um meinen Workflow mit RET-He, meine Erfahrungen oder um Cut- off-Werte.“ Der Mediziner ist überzeugt: „Die verkrusteten SOPs, bei denen lediglich Ferritin, Transferrin und Transferrinsättigung gemessen werden, müssen überarbeitet werden.“ Der aktuell vorgeschlagene Workflow in den meisten Standard Operating Procedures (SOPs) koste seiner Einschätzung nach zu viel Geld und dauere zu lange. „Die einfachen, schnelleren und günstigeren Parameter aus dem Blutbild sollten aus meiner Sicht viel mehr Beachtung finden“, sagt Hönemann.

40 PROZENT WENIGER RESERVEANTIBIOTIKA

Und die Reise geht weiter: Mit dem XN-1000 hat das Team in Vechta begonnen, neue Wege auch beim Erkennen und Monitoren von Infektionen zu erkunden. „Wir sehen, dass uns das Blutbild enorme Hilfestellung geben kann, um Diagnostik und Therapieentscheidungen schneller und effizienter zu gestalten“, erklärt Hönemann. Ein immenser Vorteil gerade für seinen Bereich, die Intensivmedizin.

Seit über einem Jahr evaluiert das Team gemeinsam mit den Chirurginnen und Chirugen in Vechta den Intensive Care Infection Score (ICIS)*. „Er hilft uns, eine wirklich systemische Infektion von einem SIRS, also dem systemischen inflammatorischen Response-Syndrom, einer Überreaktion des Immunsystems, zu unterscheiden und den Krankheitsverlauf besser zu monitoren, was insbesondere in der postoperativen Phase von besonderer Bedeutung ist.“ Die ersten Ergebnisse können sich sehen lassen und werden in Bälde veröffentlicht.

Weil der Verlauf des ICIS-Werts* Rückschlüsse darauf gibt, ob die Behandlung der Infektion anschlägt, kann Hönemann Reserveantibiotika gezielter einsetzen. Als Folge wird deutlich seltener zu solchen Antibiotika gegriffen. Diese Vermutung wollte Hönemann von der Apotheke des St. Marienhospitals überprüfen lassen. Ergebnis der internen Auswertung: „Ich habe im vergangenen Jahr deutlich weniger Reserveantibiotika eingesetzt“, sagt Hönemann, der so nicht nur Kosten senkt, sondern die Entwicklung weiterer Resistenzen verringert.

* ICIS ist Research Use Only. Der Hersteller hat keinen Zweck der In-vitro-Diagnostik festgelegt. Daher ist eine interne Validierung in den Einrichtungen erforderlich, bevor Informationen verwendet werden, um eine Diagnose zu stellen oder über die therapeutische Behandlung zu entscheiden.

ALLE AM LIMIT

Geht es nach den Klinikern in Vechta, könnten die erweiterten Blutbildparameter künftig sogar die Messung von Procalcitonin (PCT) und C-reaktivem Protein (CRP) zum Teil überflüssig machen. „Ich sehe diese erweiterten Blutbildparameter als sehr wichtig an, weil sie schnell, einfach und günstig zur Verfügung stehen“, so Hönemann. „Wir müssen den Ärzten einfache Entscheidungswege an die Hand geben und einfache Werkzeuge.“

Dass solche Werkzeuge überhaupt in die Routine aufgenommen werden, verdankt man in Vechta der engen und kollegialen Zusammenarbeit zwischen Labor, Klinik und auch dem Gerätehersteller. „In der heutigen Zeit laufen alle am Limit, es herrscht überall Personalmangel“, sagt Laborchefin Bokop. „Bei uns kennt man sich noch – es ist ja ein eher kleineres Haus.“ Wenn es etwas Wichtiges gebe, gehe sie zu den internen Meetings im Haus. „Die Ärzte kommen auch vorbei, die Doktoranden von Professor Hönemann kommen selbst zum Probenmessen ins Labor und berichten uns über ihre Forschung.“

Dieses persönliche Engagement über den eigenen Bereich begünstigt auch die Vernetzung, die nach außen entsteht: „So kam ich ja dann in Kontakt mit der Medical-Science-Abteilung von Sysmex, und seitdem haben wir einen sehr engen und kollegialen Austausch“, sagt Hönemann.

GUT GEWAPPNET

Es ist ein Austausch, der jetzt noch weitere neue Werkzeuge für innovative Diagnostik und bessere Versorgung von Patientinnen und Patienten hervorbringt. So laufen bereits weitere Studien im Infektions- und Thrombozytenmanagement. Dr. Barbara Behrens, Manager Medical Science bei Sysmex, begleitet die Forschungsarbeit von Prof. Hönemann seit drei Jahren und sieht noch viel Potenzial im erweiterten Blutbild: „Gerade im Infektionsmanagement arbeiten wir an einigen KI-gestützten Innovationen“, erklärt Behrens. „Die erweiterten Infektionsparameter werden mit Parametern aus dem Blutbild verknüpft und können das Unterscheiden von viralen, bakteriellen und Pilzinfektionen unterstützen. Das kann auch in der Ambulanz eine große Bereicherung werden.“

Der große Vorteil: Sysmex Geräte wie der XN-1000 sind modular aufgebaut und können ständig an neue Entwicklungen angepasst werden. Das freut auch Laborleiterin Bokop: „Es ist gut, zu wissen, dass die Geräte für die Zukunft gewappnet sind, da man je nachdem, was neu aus der Forschung hervorgeht, dies als neue Applikation oder Lizenz auf das Gerät nachträglich aufspielen kann.“ Es dürfte nicht der letzte folgenreiche Anruf aus dem Labor gewesen sein, der eine Revolution ins Rollen bringt.

SUMMARY

  • Der neue Blutbildparameter RET-He liefert günstig und schnell verlässliche Aussagen zum Eisenstatus, die prä- und postoperativ von großem Wert sein können
  • Anders als die meisten anderen Parameter zur Bestimmung des Eisenstatus zeigt RET-He auch in der Akuten-Phase-Situation einen aktuellen Eisenmangel korrekt an
  • Laut Studien und Aussagen von Intensivmedizinerinnen und -medizinern kann ICIS* das frühzeitige Erkennen von Infektionen, die Unterscheidung von SIRS und Sepsis und das Monitoring von antiinfektiven Therapien auf der Intensivstation unterstützen
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