Die Maschine lebt
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2024
Computerdaten, die man auf Erbgut speichert, Zellhäufchen, die Videospiele spielen, Speichern für die Ewigkeit: Biocomputing heißt die neue, raffinierte Idee von Forschenden. Wie sich die Technik in Zukunft beim Menschen bedient
TEXT: ANDRIAN KREYE UND ANN-KATHRIN NEZIK
Das Organoid ist ein menschengemachtes Zellhäufchen. Es lebt. Es kann rechnen und kommunizieren. Ein Minihirn. Hier liegt es vor einem. Zehntausend menschliche Stammzellen, fürs menschliche Auge kaum sichtbar, die bei 37 Grad Celsius, einer Luftfeuchtigkeit von 80 bis 90 Prozent und einem Sauerstoffgehalt von fast fünf Prozent in einem klobigen Stahlschrank liegen, einem Inkubatorschrank. Der steht in einem Laborraum der Firma Final Spark im schweizerischen Vevey. Durchs Fenster blickt man über den Genfer See auf die französischen Alpen. Hier drinnen schaut Firmengründer Fred Jordan aber vor allem auf die Monitore und die Geräte rund um den Stahlschrank. Vier dieser Stammzellenhäufchen liegen in Plastikkarten verpackt im Schrank. Sie sind nummeriert, eins bis vier.
Organoid Nummer drei soll antworten. Fürs menschliche Auge sind die Organoide kaum sichtbare Krümel in Plastikkämmerchen. Nadeldünne Schläuche leiten fliederfarbene Nährflüssigkeit ein, gibt man Dopamin dazu, steigert sich übrigens die Leistung. Über hauchdünne Drähtchen sind die Zellhäufchen mit dem Testaufbau verbunden. Auf einem Computerschirm kann man die Reaktionen des Organoids erkennen, das zeigt ein Balkendiagramm, ein horizontal durchlaufender Messbalken, der die elektrischen Impulse misst, die solche Organoide ähnlich wie ein Menschenhirn von sich geben. Tastendruck F1. Erst tut sich nichts. Noch einmal. Dann bläht sich der Balken auf, die Impulse sprießen wie Stacheln drum herum, zucken, beruhigen sich wieder, verschwinden. Hallo!
War das ein Gruss aus der Zukunft?
Organoide sollen irgendwann einmal die Siliziumchips ablösen, die seit mehr als 50 Jahren der Informationsrevolution unserer Gesellschaft Speicher und Antrieb sind, egal ob im Supercomputer, im PC oder im iPhone. Wenn Fred Jordan und seine Mitstreitenden recht behalten, wird man in Zukunft mit den Organoiden neuronale Netze bauen, auf denen die Programme künstlicher Intelligenz laufen.
Dann wird alles anders. Bisher waren Computer der Gipfel der menschengemachten Technologie. Je weiter sie sich entwickelte, desto mehr suchte die Menschheit in ihr das Heil, begab sich in eine stetig wachsende Abhängigkeit. Eines aber stand dabei immer fest: Natur und Maschinen waren streng getrennt. Bis jetzt. Denn diese Grenze löst sich gerade auf.
Biocomputing nennt sich das Forschungsfeld. Statt auf Chips und Platinen sollen Rechenvorgänge und Datenspeicherung künftig auf organischem Material laufen. Zwei Technologien werden schon jetzt erprobt. Zum einen kann man Daten auf Erbgut, also DNA, speichern. Zum anderen kann man jetzt schon Rechenvorgänge auf solchen Zellhäufchen laufen lassen.
Man kann die beiden Forschungsfelder des Biocomputing recht einfach definieren. Das Datenspeichern auf DNA beruht im Kern darauf, dass Wissenschaftler die Sprache der Maschinen in die Sprache der Natur übersetzen. Und die Organoide sind letztlich synthetische Gebilde, menschengemachte Zellhäufchen, denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beibringen, zu handeln. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Gewinnung von Stammzellen ein ethisches Minenfeld, meist wurden sie Nabelschnüren oder Embryonen entnommen. Erst als der japanische Mediziner Shin’ya Yamanaka und sein britischer Kollege John Gurdon ein Verfahren entwickelten, Stammzellen aus jeder nur erdenklichen menschlichen Zelle wie aus einer Haarschuppe zu gewinnen, gibt es das Problem nicht mehr.
Das „Warum“ sollte man vielleicht gleich mal klären. Mit den Fortschritten bei der künstlichen Intelligenz, sagt der Informatiker Jordan in seiner Firmenzentrale in Vevey, stießen Maschinen erstmals an die Grenzen der Naturgesetze. Chips könnten bald nicht mehr kleiner und schneller werden, zudem seien die auf Silizium basierenden Speichermedien in der Regel nach zehn, zwanzig Jahren kaputt. Und zu viel Strom verbraucht KI auch noch.
Die Technologiegeschichte schließt sich nun zu einem Kreis: zurück zur Natur. Um weiter vorzustoßen in die Zukunft, schaut sich der Mensch jetzt in der Computertechnik die Baupläne und Technologien der Natur ab. Das erfordert ein gewaltiges Umdenken. In jedem Rechenvorgang laufen Milliarden Mikroentscheidungen zwischen null und eins ab, egal ob auf einem Computer oder einem Smartphone. Diese Rechenvorgänge sollen künftig nicht mehr dank der Kraft der Elektrizität, des Magnetismus und des Lichts über die Chips und Leitungen aus Silizium und Glasfaser funktionieren, sondern auf Zellhäufchen, für die die Informatik sich nun auch die Biologie und die Chemie zunutze macht.
Grob vereinfacht teilt sich die Forschung heute in zwei Felder. Es gibt die Lehrenden, die der DNA die neue Sprache beibringen und den Organoiden das Handeln. Und dann gibt es die Trainierenden, die DNA und Organoide dazu bringen, ihre Aufträge auch auszuführen. Unsere Reise in die nahe Zukunft führt uns durch die Welt des Biocomputing zu diesen Lehrenden nach München und Baltimore. Frauen und Männer trifft man dort, die diesen historischen Schritt der Wissenschaft und Technologie vorbereiten.
München
Besuch beim Lehrer der DNA. Reinhard Heckels Büro befindet sich auf dem Gang des Department for Computer Engineering der Technischen Universität. Ein paar Bücherregale, ein Schreibtisch mit Rechner, an der Wand lehnt ein Rennrad. Als Professor für maschinelles Lernen gehört Reinhard Heckel zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die TU München zum Magneten für all die Digitalkonzerne gemacht haben, die sich derzeit mit ihren Filialen in München niederlassen. Das Wirtschaftsmagazin „Capital“ wählte ihn 2022 zu einem der „40 unter 40“, die Deutschland nach vorn bringen. In der Szene ist er bekannt, weil er mathematische und empirische Grundlagen für Maschinenlernen etabliert hat, also Voraussetzungen für künstliche Intelligenz. Seit einiger Zeit erforscht er, Daten auf DNA-Strängen zu speichern. Das ist neben den neuronalen KI-Netzen auf Stammzellenbasis die andere der beiden Hauptströmungen des Biocomputing.
Nun klingt eine Wortwolke aus Erbgut, Maschinen und künstlicher Intelligenz zunächst mal wie der Pitch für einen Science-Fiction-Film. Und dann wären da noch die ethischen Fragen. Heckel weiß das und kann die Zweifel auch gleich ausräumen. Zum einen sind die Erbgutstränge, mit denen er arbeitet, synthetisch hergestellt. Es sind zwar die gleichen Bausteine wie in der Natur. Nukleotide nennt man die. Aber da steckt im Gegensatz zu den Organoiden kein Leben drin.
Nur – wie speichert man nun digitale Daten auf organischer Masse? Sind die Sprache der Maschinen und die Sprache der Natur nicht sehr unterschiedlich? Heckel wischt ein paar Formeln von seinem Whiteboard an der Wand, dann beginnt er zu erklären. Wenn man die Sprache der Maschinen auf ihren Kern herunterbricht, gehe es immer um die Frage null oder eins. Aus Myriaden solcher Mikroentscheidungen konstruiert sich ein Rechner die Antworten, die von der Algebra bis hin zur Kopie eines Hollywoodfilms einiges umfassen können. Die Sprache des Lebens, also der Biologie, ist ein bisschen komplexer. Reinhard Heckel schreibt vier Buchstaben auf das Whiteboard: A, C, G und T. Die Buchstaben stehen für Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin. „Jedes Nukleotid besteht aus diesen vier Basen“, sagt er. Aus Schulbüchern kennt man vielleicht noch die Doppelspirale der DNA. Die besteht aus solchen Bausteinen. Heckels Algorithmen können nun die zweipolige Sprache der Computer mit ihren Nullen und Einsen auf die vierpolige Sprache der Genetik übertragen.
Der entscheidende Vorteil dieser Methode wäre in Zukunft nicht nur die enorme Menge, die man auf allerkleinstem Raum speichern kann, sondern vor allem die Langlebigkeit. „Wenn Sie Daten auf einem USB-Stick speichern, ist der nach zehn Jahren in der Regel kaputt“, sagt Heckel. Festplatten halten länger, aber da geht es um Jahrzehnte. „Eine Festplatte ist im Prinzip ein Stück Metall, auf dem Sie auf der Oberfläche jeden Punkt entweder in die eine oder in die andere Richtung magnetisieren.“ Wenn der Computer wissen muss, ob es sich hier um eine Null oder eine Eins handelt, muss der Punkt eben in die eine oder in die andere Richtung magnetisiert sein. Mit der Zeit lässt diese Magnetisierung nach.
Computer haben Methoden der Fehlerkorrektur. Aber irgendwann lassen sich diese magnetisierten Stellen nicht mehr lesen. „Wenn wir von Langzeitspeicherung sprechen, geht es um dreißig Jahre.“ Das heißt, Archive müssen sämtliche Daten auf neuen Datenträgern speichern, sonst sind sie verloren.
Mit DNA könnten Daten viel länger gespeichert werden. „500 Jahre“, sagt Heckel. „Wenn Sie das bei Temperaturen unter null Grad lagern, können das aber auch eine Million oder zwei Millionen Jahre sein.“ Das erlebt man gerade in Gegenden wie Sibirien, wo der Permafrost wegen der Erderwärmung abschmilzt. „Sie haben neulich die Knochen eines Mammuts gefunden, die waren 1,2 Millionen Jahre alt. Man konnte die DNA aber noch auslesen.“
Wie weit ist Heckel aber schon mit seiner Forschung? Er hat da neulich zusammen mit dem Streamingdienst Netflix ein Projekt verwirklicht, mit dem er das sehr plastisch illustrieren kann. Auf seinem Schreibtisch steht ein Karton mit der Grafik der Serie „Biohackers“. Darin befindet sich eine ungefähr colaflaschengroße Kapsel aus gebürstetem Metall und Plexiglas, in der ein Reagenzglas befestigt ist. Darin schwappt eine Flüssigkeit im Magenta des Senderlogos. Ganz unten im Reagenzglas liegt ein Häufchen Krümel. Das ist die Speicher-DNA.
Auf diesen Krümeln haben Reinhard Heckel und Robert Grass eine Folge der Serie gespeichert. Viele Male. Insgesamt liegen da auf dem Grund des Reagenzglases eine Million Kopien dieser Folge. Jede Folge ist auf vier Millionen DNA-Sequenzen gespeichert.
Für Heckel und Grass war der PR-Gag für den Streamingdienst ein Geschenk. Zum einen haben sie nun ein hervorragendes Beispiel, um Leuten ihre Arbeit zu erklären. Zum anderen finanzieren solche Aktionen ihre Experimente. Biocomputing ist nämlich immer noch teuer. Die synthetische DNA ist da noch das geringste Problem. Die kann man von Firmen für Laborbedarf bestellen, die kostet nicht so viel. Wenn man dann aber die Labor- und Arbeitszeit dazurechnet und die Maschinenparks, zeigt der Vergleich zur herkömmlichen Datenspeicherung, dass sich DNA-Speicherung doch noch in der Phase der Grundlagenforschung befindet. „Wenn Sie ein Megabyte auf einer Festplatte speichern, kostet Sie das grob geschätzt um die 0,00001 Euro“, sagt Heckel. Auf einem Megabyte kann man zum Beispiel ein Buch von 500 Seiten speichern. Oder einen Popsong in mäßiger Tonqualität. „Bei der DNA liegen wir momentan bei ungefähr 1000 Euro pro Megabyte.“
Baltimore
Sprung über den Atlantik, nach Baltimore, an die Ostküste der USA. Besuch bei Thomas Hartung, dem Lehrer der Organoide. Die Hoffnungsträger des Biocomputings ruhen derzeit im Raum W7609, siebter Stock der Johns-Hopkins-Universität im Zentrum von Baltimore. Bei 37 Grad Celsius werden sie in einem weißen Inkubatorschrank sanft durchgerüttelt und alle paar Tage mit frischer Salzlösung versorgt.
Die kleinen Zellhaufen mögen es feucht und warm. Eine Doktorandin öffnet den Inkubator und platziert die winzigen Punkte vorsichtig unter einem Mikroskop. Nun kann man sie aus der Nähe betrachten. So also sehen vier Wochen alte Minihirne aus. Denn nichts anderes sind die grüngelben Kügelchen, die sich in der Petrischale zu Hunderten aneinanderdrängen. Mit einem Durchmesser von 0,5 Millimetern haben sie ungefähr die Größe eines Stubenfliegenhirns.
„Im Grunde sind das meat balls“, Fleischklopse, sagt Thomas Hartung, der deutsche Leiter der Forschungsgruppe, über die Klumpen unter dem Mikroskop. Er will sie nicht zu sehr vermenschlichen, deshalb spricht auch er lieber von „Organoiden“ als von Minihirnen.
Hartung hat mit seinem Team ein Verfahren entwickelt, um aus Blut und Urin menschliche Nervenzellen zu züchten und so grundlegende Strukturen des Gehirns nachzuahmen. Damit hofft er, Erkrankungen wie Autismus zu erforschen, aber vor allem eine Frage zu beantworten, die ihn seit Jahren umtreibt: Lässt sich menschliche Intelligenz im Labor erzeugen?
Seit Jahrhunderten versuchen Forschende, das Gehirn zu verstehen, und sind dabei noch immer nicht sehr weit gekommen. Wie lernen Menschen? Bis heute hat dieses Rätsel niemand gelöst. Das Computerzeitalter hat die Frage womöglich noch komplizierter gemacht, denn es hat die Schwächen des menschlichen Denkens offenbart. Die von Google oder Open AI entwickelten KI-Programme können Schachgroßmeisterinnen und -meister besiegen und in Sekundenbruchteilen das Wissen ganzer Bibliotheken erfassen. Dafür verstehen sie nicht, wie die Welt funktioniert – und warum zum Beispiel nach einem auf die Straße rollenden Ball oft ein Kind folgt. Etwas, das die meisten Menschen ganz intuitiv begreifen.
Daneben verbrauchen die Hochleistungsrechner, die künstliche Intelligenz trainieren, Unmengen an Platz und Strom. Frontier etwa, der 600 Millionen US-Dollar teure und dreieinhalb Tonnen schwere Supercomputer des Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, verschlingt 650.000-mal so viel Energie wie ein menschliches Gehirn. Das Hirn ist aber trotzdem leistungsfähiger.
Thomas Hartung träumt davon, beides zu vereinen, die Logik von Computern mit der menschlichen Intuition. Organoide Intelligenz nennt er das, kurz OI, was nicht durch Zufall so klingt wie AI, der englische Begriff für künstliche Intelligenz.
Hartungs Mission geht auf seine Kindheit zurück. Schon als Junge experimentierte er viele Stunden mit dem Chemielabor, das ihm seine Eltern im Keller aufgebaut hatten. Noch mehr aber bewunderte er den Zoologen und Tierfilmer Bernhard Grzimek. „Ich wollte so werden wie er“, sagt Hartung. Doch in seinem Medizinstudium musste er entsetzt feststellen, dass jedes Jahr Tausende Laborratten und -mäuse für die wissenschaftliche Forschung sterben. Also beschloss Hartung, einen weniger grausamen Weg finden.
Mitte der Nullerjahre schien Hartungs Traum auf einmal ganz nah zu sein, damals, als es Shin’ya Yamanaka und John Gurdon gelungen war, Körperzellen in Stammzellen zurückzuverwandeln und daraus wiederum jede erdenkliche Art von menschlichen Zellen zu gewinnen. Hartung und sein Team entwickelten das Verfahren weiter. Sie züchteten aus den Zellen dreidimensionale Neuronenkügelchen, sogenannte Organoide. Bald konnten sie diese wie am Fließband erzeugen, mehrere Millionen haben sie seither produziert. Und sie schafften es, neben Neuronen auch Helferzellen im Labor zu kultivieren. Diese sind essenziell für das Gehirn, weil sie wichtige Verbindungen zwischen Nervenzellen stärken und weniger wichtige ausschalten. So entwickeln die zufällig geknüpften Synapsen langsam ein Gedächtnis.
Trotzdem fehle seinen Organoiden vieles, was das menschliche Hirn aus- mache, erzählt Thomas Hartung in seinem Büro. Blutgefäße und Nervenstränge zum Beispiel, die zu einem sehenden, hörenden und fühlenden Körper führen, sowie die charakteristischen Hirnwindungen und die verschiedenen Areale, die für Motorik, Sprache, Emotionen und Gefühle zuständig sind. Außerdem sind sie gut 2000-mal kleiner als das Gehirn des Menschen.
Anfangs, sagt Hartung, habe er mithilfe der Organoide vor allem verstehen wollen, wie sich unerforschte Arzneimittel und Gifte auf den menschlichen Organismus auswirken. Die Zahl der Autismusdiagnosen habe sich in den USA seit dem Jahr 2000 vervierfacht. Hartung glaubt, dass dies an Umweltgiften liegen könnte, die beispielsweise in Form von Brandschutzmitteln in Möbeln stecken. Mit den Organoiden sei es nun viel leichter, die toxischen Stoffe zu testen, ohne dass dafür ein Tier sterben muss.
Dann kam Hartung aber noch auf eine andere Idee, was man mit den Organoiden anstellen könnte. Bei einer Fachkonferenz habe jemand von ihm wissen wollen, ob seine Zellhaufen eigentlich ein Bewusstsein besäßen, erzählt er. Das hätten sie nicht, habe er geantwortet, dafür seien sie viel zu klein. „Aber ich habe mich in dem Moment gefragt, was passieren würde, wenn wir ihnen etwas zu tun geben.“
Am Nachmittag läuft Hartung zum Büro von Lena Smirnova, seiner Frau. Schon von Weitem hört man lautes Lachen über den Flur hallen. Smirnova sitzt mit zwei Doktorandinnen zusammen, zu dritt beugen sie sich über ein Videospiel, das aussieht, als habe jemand in die Achtzigerjahre zurückgespult. Ein Figürchen durchquert darin einen Parcours, es hüpft über ein Hindernis und noch eines und noch eines, bis es schließlich doch an einem Stein zerschellt. „Ohhh!“, rufen die Frauen enttäuscht. Dennoch ist das Video ein Erfolg für Smirnova und ihr Team. Denn das Figürchen wird von einem der Organoide aus dem Inkubator gelenkt.
Um zu erklären, wie das funktioniert, führen Smirnova und Hartung in ein anderes Labor. Auf einem Tisch stehen dort zwei schuhkartongroße Boxen, 200.000 US-Dollar teure Spezialanfertigungen. Was man von außen nicht sieht: In den Boxen befindet sich ein Organoid, festgeklebt auf einem Mikrochip, der wiederum mit einem PC verbunden ist. Die Elektroden auf dem Mikrochip leiten elektrische Reize vom PC ins Innere des Zellhaufens. Denn wie ein Computer reagiert auch das Gehirn auf elektrische Stimulation, ist Lernen im Grunde nichts anderes als die Verarbeitung winziger Stromschläge und in diesem Fall ein Signal für das Organoid, nach vorn zu marschieren.
„Noch weiß das Organoid nicht, was es tut“, sagt Hartung. „Es begreift nicht, wann es springen muss und wann es reicht, geradeaus zu laufen.“ Doch vielleicht, so die Hoffnung des Forschers, bilden sich mit jedem Versuch neue Synapsen zwischen den Neuronen. Vielleicht lernt das Organoid bald, die Steine als Hindernisse zu erkennen. Und vielleicht erinnert es sich irgendwann auch am nächsten Tag noch daran. Bislang sei das Grundlagenforschung, mit der er die Funktionsweise des Gehirns erklären wolle, sagt Thomas Hartung. Doch schon jetzt ist der Wissenschaftler mit Skepsis gegenüber seiner Arbeit konfrontiert, ein Hirn aus der Petrischale ist nun einmal etwas anderes als eine künstliche Gallenblase.
Es stellt sich die Frage, wem die Organoide gehören: denen, die sie erschaffen, oder denen, die sie spenden? Oder ob sie so etwas wie Schmerzen empfinden, wenn man sie nicht mehr mit ihrer Salzlösung versorgt. Zumindest das kann Hartung verneinen. Die Organoide besäßen ja keine Schmerzzellen, sagt er, wie sollten sie da Schmerz empfinden? Aber er räumt ein, nicht auf alles eine Antwort zu haben. Deshalb arbeitet er eng mit einem Team von Bioethikerinnen und -ethikern zusammen, die bei jedem wichtigen Meeting dabei sind.
Und Thomas Hartung? Er wolle nicht alles ausreizen, was technisch möglich ist, sagt er. „Ich will keine Organoiden erschaffen, mit denen ich reden kann.“ Auch wenn er damit nicht verhindern kann, dass andere diese Grenzen überschreiten, Forschende mit weniger Skrupeln oder ein Milliardär ganz ohne Hemmungen.
Urhebervermerk: Andrian Kreye und Ann-Kathrin Nezik/Süddeutsche Zeitung
SUMMARY
- Forschende arbeiten daran, inwiefern sich Daten auch auf organischem Material speichern lassen
- Die „Organoide“ aus menschlichen Zellhäufchen trainieren sie mit elektrischen Reizen – mit erstaunlichem Erfolg