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Die Wissenschaft ist mein Polarstern

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2024

Sie ist die Mutter der RNA-Technologien und wurde dafür im vergangenen Jahr mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Warum es für die Anerkennung von Katalin Karikós Lebenswerk eine Pandemie brauchte und welche RNA-Innovationen aktuell erprobt werden

Text: Verena Fischer

Jahrzehntelang war sie unter Forschenden als die verrückte RNA-Lady bekannt. Heute lacht niemand mehr über sie. Denn 2022 wurde Katalin Karikó zusammen mit ihrem Kollegen Drew Weissman mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Der Grund: Die Forschenden lieferten mit ihrer Entdeckung einer RNA, die so modifiziert ist, dass sie keine ungewollten Immunreaktionen auslöst, die Basis für die Entwicklung der heute weltweit bekannten Corona-Impfstoffe. Rückblickend erscheint es grotesk, dass Karikó während ihrer gesamten Forschungskarriere trotz wissenschaftlicher Durchbrüche keine Anerkennung und wenig Fördergelder erhielt sowie mehrfach ihren Job verlor (siehe Kasten). Immerhin ist die Firma BioNTech mittlerweile mit einem Börsenwert von über 20 Milliarden US-Dollar und mehr als einer Milliarde ausgelieferter Impfdosen eines der wertvollsten Biotech-Unternehmen der Welt. Allein 2021 hat BioNTech mit Karikó als Senior Vice President über 10 Milliarden Euro Gewinn gemacht.

Was war da los? Und was steckt hinter dem ungebrochenen Elan der Wissenschaftlerin, die gegenüber Niederlagen immun zu sein scheint? „Wenn ich eine Superkraft habe, dann diese: die Bereitschaft, hart und methodisch zu arbeiten und nicht aufzuhören“, erklärt Karikó, der es nie darum ging, gemocht oder anerkannt zu werden. Es ist Neugierde, die sie jede freie Minute im Labor verbringen lässt; das Verlangen, ein nächstes winziges Teilchen für das riesige Puzzle der Wissenschaft zu finden.

Das RNA-Problem

„Man kann mit RNA nicht arbeiten, sie ist zu instabil“, warnten Forschende Karikó bereits zu Beginn ihrer Karriere. Doch sie ließ sich nicht bremsen. Zu sehr faszinierte sie die Idee, den Bauplan für heilende Proteine mithilfe von RNA in Zellen einzuschleusen. Neben den Herausforderungen, die RNA mit sich bringt, sieht Karikó vor allem den Vorteil, dass RNA im Gegensatz zu DNA das Genmaterial nicht dauerhaft verändert. Zu Beginn ihrer Forschung konzentrierte sie sich auf RNA-Medikamente gegen HIV, Krebs, Blutgerinnsel oder Vasospasmen. Erst als sie 1997 den Immunologen Drew Weissman kennenlernt, inspiriert dieser sie dazu, RNA für Impfungen gegen Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV, Herpes und Influenza entwickeln zu wollen.

Der wissenschaftliche Durchbruch gelang 2006, als die beiden eine modifizierte mRNA fanden, die vom Körper nicht als fremdartig erkannt wird. Sie ließen sich ihre Entdeckung patentieren und 14 Jahre später, als Covid-19 pandemisch wurde, erlangte diese Technologie plötzlich weltweiten Ruhm und machte Karikó über Nacht berühmt. Der Erfolg mit dem Corona-Impfstoff ist Geschichte, und nun ist die Frage, wie es mit Karikó weitergeht – und zwar als Forschende in Ungarn und den USA.

RNA-Impfungen der Zukunft

Derzeit laufen mehr als 250 klinische Studien zur Überprüfung von mRNA-basierten Medikamenten. Dazu zählen Phase-3-Studien zum Einsatz von mRNA-basierten Impfstoffen gegen Infektionen mit dem respiratorischen Synzytialvirus (RSV), Influenza, Herpes und HIV. Weiterhin wird an mRNA-basierten Impfungen gegen Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und dem Zytomegalievirus (CMV) geforscht. Für beide Impfstoffe haben Studien bereits begonnen. Es wird auch an einem Vakzin gegen das vor allem in Südostasien verbreitete Nipahvirus gearbeitet.

Nicht nur viralen Infektionen soll mit mRNA-Vakzinen vorgebeugt werden. Es gibt auch Untersuchungen, die sich auf Impfungen gegen Tuberkulose und Malaria konzentrieren. Im Tiermodell werden außerdem Impfstoffe gegen Borrelien (verursachen die Lyme-Krankheit) oder Yersinia pestis (Pestbakterium) mit guten Ergebnissen erprobt. Vielversprechend sind außerdem Forschungen an multivalenten Impfstoffen gegen weitere Zeckenerkrankungen. Bei Tieren konnte eine Erregerausbreitung dank RNA-Impfung nach dem Zeckenbiss erfolgreich verhindert werden.

RNA als Krebstherapie

Für Patienten mit metastasiertem Prostatakrebs steht seit Dezember eine RNA-Impfung gegen sechs spezifische Eiweiße des Prostatakarzinoms zur Verfügung. Es wird zudem eine Immuntherapie in Kombination mit einer mRNA-Impfung zur adjuvanten Therapie des malignen Melanoms untersucht. Der Impfstoff wird dabei spezifisch auf Patientinnen und Patienten abgestimmt und enthält Neoantigene aus entferntem Tumorgewebe. Eine erste Phase-2-Studie zeigt, dass das rezidivfreie Überleben durch die Impfung verlängert werden kann. Bei tastbaren Tumoren wie malignen Melanomen oder Kopf-Hals-Tumoren wird versucht, mRNA, die für Zytokine kodiert wird, direkt in den Tumor zu injizieren und so das körpereigene Immunsystem gegen den Tumor zu aktivieren. Eine Kombination mit Checkpoint-Inhibitoren könnte die Immunantwort zusätzlich verstärken. Forschende arbeiten zudem daran, CAR-T-Zelltherapien mit einer RNA-Impfung zu unterstützen.

Weitere mögliche RNA-Technologien

Wenn Patientinnen und Patienten mit Diabetes an nekrotischen Wunden leiden, könnten RNA-Arzneimittel, die den Bauplan für den endothelialen Wachstumsfaktor enthalten, die Gefäßneubildung und die Wundheilung unterstützen. Dieselbe Technologie könnte auch als Injektion in den Herzmuskel während Bypassoperationen dazu beitragen, die Herzfunktion zu verbessern. Auch bei der Behandlung von seltenen genetischen Erkrankungen könnten sich RNA-Technologien als nützlich erweisen. Das gilt etwa für die Propionazidämie und die Methylmalonazidämie. Zudem gibt es Tierversuche, in denen untersucht wird, ob sich eine Erdnussallergie mit RNA-Substanzen therapieren lässt. Auch Sysmex hat sich mit der neuen Unternehmensstrategie darauf festgelegt, RNA-Technologien der Zukunft mitzugestalten. Es ist also mit zahlreichen Innovationen zu rechnen. Und vielleicht wird auch Katalin Karikó noch weitere wissenschaftliche Erfolge mit ihrer Forschung erzielen.

„Die Historie der Wissenschaft ist voll von Momenten, in denen sich sehr schlaue Menschen über sehr gute Ideen lustig machen“

Katalin Karikó

Die bewegte Karriere von Katalin Karikó

Rückschläge und Durchbrüche

1954

Ein Jahr nach Entschlüsselung der DNA wird Katalin Karikó im ländlichen Ungarn geboren. Ende der 50er werden französische Forschende für ihre mRNA-Hypothese ausgelacht, die 1960 belegt wird

1973 beginnt Karikó ihr Biologiestudium an der Universität Szeged und begeistert sich ab 1978 für RNA
1980 erhält sie ein Stipendium für ihre Forschung, bis sie 1984 entlassen wird, weil Fördergelder fehlen
1985 bleibt ihr nur die Auswanderung in die USA, um ihre RNA-Forschung fortzusetzen
1988 wechselt sie nach massivem Mobbing den Arbeitgeber
1989 wird sie an der Universität von Pennsylvania angestellt, um mRNA-Therapien für die Kardiologie zu entwickeln. Anfang der 90er werden Gentherapien mit DNA immens gefördert
1994 Karikó schreibt über mehrere Jahre jeden Monat einen Förderantrag – keiner wird bewilligt
1996 verliert sie nach einem Leitungswechsel ihre Anstellung. Zeitgleich wird das Human Genome Project mit 25 Millionen US-Dollar gefördert
2006 lassen sie sich ihre modifizierte mRNA patentieren und gründen das Unternehmen RNAx, wofür sie 97.396 US-Dollar Fördergeld erhalten. Zeitgleich generieren BioNTech-Gründer 150 Mio. Euro Startkapital
2013

findet Karikó ihr Labor an der Uni leergeräumt vor. Sie schließt sich BioNTech als Vizepräsidentin an und zieht nach Mainz um

2020 bringt die Pandemie den weltweiten Durchbruch für Karikós Lebenswerk. 
Heute ist sie Professorin an der ungarischen Universität Szeged und an der University of Pennsylvania und führt ihre mRNA-Forschung fort 

 

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