Scientific Kalender Mai 2020
Kann die Absolutzahl der unreifen Thrombozyten (IPF#, Immature Platelet Fraction, absolute count) Aufschluss über die Thrombozytenaggregationshemmung (TAH) bei Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung geben?
Nein, es gibt keine wissenschaftlichen Belege für eine Korrelation zwischen der IPF# und dem Ansprechen auf eine Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern.
Ja, eine erhöhte IPF# steht in starkem Zusammenhang mit einer erhöhten verbleibenden Thrombozyten-Reaktivität und einem verminderten Ansprechen auf Aspirin, Clopidogrel und Prasugrel, nicht jedoch Ticagrelor.
Ja, eine erhöhte IPF# steht mit einer erhöhten verbleibenden Thrombozyten-Reaktivität und einem verminderten Ansprechen auf Ticagrelor in Zusammenhang.
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Wissenschaftliche Hintergrundinformationen
Der Kalender-Fallbericht dieses Monats handelt von einem Patienten mit erhöhtem Thrombozytenumsatz, bei dem trotz Thrombozytenaggregationshemmung (mit Aspirin und/oder Clopidogrel) rezidivierende kardiovaskuläre Ereignisse auftraten. Nach der Umstellung auf Ticagrelor normalisierten sich die klinischen Ergebnisse des Patienten [1].
Clopidogrel ist ein in der Behandlung und Vorbeugung von kardiovaskulären Erkrankungen häufig angewendeter Thrombozytenaggregationshemmer. Der Wirkstoff hemmt den P2Y12-Rezeptor irreversibel und hemmt damit die Thrombozytenaggregation, wodurch wiederum das Risiko unerwünschter kardiovaskulärer Ereignisse sinkt [2]. Unter Clopidogrel-Therapie bleiben rezidivierende kardiovaskuläre Ereignisse jedoch eine signifikante Morbiditäts- und Mortalitätsursache [3]. Dies lässt sich möglicherweise zum Teil durch ein vermindertes Ansprechen auf Clopidogrel, das heißt eine schwächere Thrombozytenhemmung, erklären [4]. Deshalb wurden stärkere P2Y12-Antagonisten entwickelt, die eine bessere Thrombozytenhemmung erreichen sollen. Bei Patienten mit Myokardinfarkt oder Schlaganfall oder nach perkutaner Koronarintervention lässt sich mit Ticagrelor eine stärkere und gleichmäßigere Thrombozytenhemmung als mit Clopidogrel erzielen [2,5].
Ein 58-jähriger Patient wurde mit Zeichen und Symptomen eines Hirninfarkts vorgestellt. Anamnetisch lagen fünf frühere ischämische Schlaganfälle sowie eine Erkrankung der Karotis vor. Als kardiovaskuläre Risikofaktoren lagen Hypertonie, Hypercholesterinämie und Rauchen vor. Drei Jahre zuvor war bei dem Patienten eine Polycythaemia vera (PV) mit begleitender Thrombozytose diagnostiziert worden. Die normale Therapie des Patienten umfasste Clopidogrel 75 mg einmal täglich als Monotherapie; aufgrund der starken Thrombose-Vorgeschichte des Patienten hatte man sich für diese Therapie anstelle von Aspirin entschieden. In der Magnetresonanztomographie zeigten sich neue Infarkte im Vermis sowie in der linken Kleinhirnhemisphäre. Die hämatologischen Parameter stellten sich mit Thrombozyten 890 ×109/l, Leukozyten 22,1 ×109/ und Hämatokrit 0,47 l/l dar. Der Patient wurde mit 90 mg Gewebeplasmogen-Aktivator entsprechend des Körpergewichts erfolgreich behandelt. Bei Entlassung wurde ihm eine duale Thrombozytenaggregationshemmung (DTAH) mit Clopidogrel und Aspirin, jeweils 75 mg einmal täglich, für drei Monate gefolgt von einer Clopidogrel-Monotherapie verordnet. Die Behandlung der PV wurde durch eine zytoreduktive Therapie (mit Hydroxyharnstoff) und eine Phlebotomie intensiviert.
Fünf Monate nach Entlassung und nur zwei Monate nach Absetzen des Aspirins wurde der Patient mit einem ST-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI) eingeliefert. In der Akutphase erhielt der Patient eine standardmäßige anflutende DTAH, bestehend aus Aspirin 300 mg und Ticagrelor 180 mg, sowie Heparin 10.000 IE intravenös. In der akuten Koronarangiographie war ein kompletter Verschluss der rechten Koronararterie erkennbar. Der Patient erhielt einen Koronarstent, und die DTAH wurde mit Aspirin 75 mg einmal täglich und Ticagrelor 90 mg zweimal täglich fortgesetzt. Die Echokardiographie zeigte eine linksventrikuläre Ejektionsfraktion von 50 % mit einer dem Versorgungsareal der rechten Koronararterie entsprechenden Akinesie. Drei Tage nach dem STEMI stellten die Kardiologen erhöhte Werte bei der Thrombozytenzahl, der Absolutzahl der unreifen Thrombozyten (IPF#) und der unreifen Thrombozytenfraktion (IPF) fest: Thrombozyten bei 682 ×109/l, IPF# bei 25,9 ×109/l (Normbereich: 2,5–16,6) und IPF bei 3,8 % (Normbereich: 1,1–6,1) [1]. Gleichzeitig wurde die Thrombozytenaggregation mittels Vollblutaggregometrie untersucht; diese ergab eine erhöhte Thrombozytenaggregation in Reaktion auf ADP und Arachidonsäure trotz der Behandlung mit Aspirin und Ticagrelor. Siebzehn Tage später hatten IPF#, IPF und arachidonsäureinduzierte Thrombozytenaggregation abgenommen, die ADP-induzierte Thrombozytenaggregation hingegen blieb erhöht. Die DTAH wurde mit Aspirin 75 mg einmal täglich und Ticagrelor 90 mg zweimal täglich fortgesetzt. Seitdem (12 Monate) sind keine kardiovaskulären Ereignisse aufgetreten.
PV-Patienten haben ein hohes Risiko thromboembolischer Komplikationen, die Thrombosemechanismen sind jedoch noch nicht vollständig verstanden. Das Hyperviskositätssyndrom, das mit den meisten chronischen myeloproliferativen Erkrankungen einhergeht, könnte eine maßgebliche Rolle spielen, als ein weiterer möglicher Mechanismus wurde eine überaktive JAK-/STAT-Signalkaskade vorgeschlagen. Der vorliegende Fallbericht deutet darauf hin, dass Thrombozytenaggregationshemmer bei diesen Patienten nicht die erwartete Schutzwirkung entfalten. Unser Patient erlitt trotz der Initialtherapie mit Clopidogrel sechs Hirninfarktepisoden und eine STEMI-Episode. In diesem Zeitraum wurde er von einer häuslichen Pflegekraft betreut, um eine optimale Einhaltung der verordneten Medikation sicherzustellen. Nach dem letzten ischämischen Schlaganfall, der mit einer Thrombolyse behandelt wurde, wurde die TAH des Patienten für drei Monate auf duale Therapie umgestellt. Danach wurde der Patient wieder auf Clopidogrel-Monotherapie umgestellt, und nur zwei Monate später erlitt er einen STEMI. Die TAH wurde daraufhin mit Aspirin 75 mg einmal täglich und Ticagrelor 90 mg zweimal täglich intensiviert. Die genauen Gründe für die unzureichende Thrombozytenhemmung sind schwer zu bestimmen. Eine plausible Erklärung könnte jedoch ein erhöhter Thrombozytenumsatz sein. IPF# und IPF wurden als Marker eines erhöhten Thrombozytenumsatzes gemessen und waren drei Tage nach dem STEMI erhöht. Der Patient wies eine Thrombozytose auf und war Raucher; beides sind bekanntermaßen Faktoren, die mit einem erhöhten Thrombozytenumsatz in Verbindung stehen. Bei Patienten mit erhöhtem Thrombozytenumsatz wird ein erhöhter Anteil von unreifen Thrombozyten aus dem Knochenmark freigesetzt. Diese unreifen, sogenannten retikulären Thrombozyten scheinen in hämostatischer Hinsicht stärker reaktiv zu sein. Sie können aufgrund von Megakaryozyten zurückbleibender mRNA an der Hämostase beteiligte Proteine herstellen und wirken daher mit größerer Wahrscheinlichkeit bei der Thrombusbildung mit [6,7]. Siebzehn Tage nach dem Myokardinfarkt beobachteten die Kardiologen eine Abnahme der IPF, doch die Werte lagen immer noch über dem Normbereich, was dem Bild einer stabileren Phase eines erhöhten Thrombozytenumsatzes entspricht. Neben einer hohen Thrombozytenzahl wurden zudem weiterhin hohe IPF-Werte festgestellt. Das schlechte Ansprechen unseres Patienten könnte somit zum Teil durch einen erhöhten Thrombozytenumsatz zu erklären sein, der gegen die thrombozytenhemmenden Wirkungen des Clopidogrels arbeitet. Das schlechte Ansprechen könnte außerdem teilweise die Folge der Thrombozytose sein.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass PV-Patienten ein hohes Risiko von thromboembolischen Komplikationen haben. Es wichtig, die Thrombosemechanismen bei diesen Patienten genauer zu erforschen, und dieser Fallbericht zeigt auf, dass ein schlechtes Ansprechen auf die Thrombozytenaggregationshemmung einen Einflussfaktor darstellen könnte. IPF# und IPF können als Marker eines erhöhten Thrombozytenumsatzes und eines schlechten Ansprechens auf eine TAH herangezogen werden.
Literatur
[1] Pedersen OH et al. (2017) Recurrent Cardiovascular Events Despite Antiplatelet Therapy in a Patient with Polycythemia Vera and Accelerated Platelet Turnover. Am J Case Rep. 18:945–8.
[2] Grove EL et al. (2015) Antiplatelet therapy in acute coronary syndromes. Expert Opin Pharmacother. 16(14):2133–47.
[3] Wurtz M et al. (2013) Pharmacogenomics in cardiovascular disease: Focus on aspirin and ADP receptor antagonists. J Thromb Haemost. 11(9):1627–39.
[4] Yudi M et al. (2016) Clopidogrel, prasugrel or ticagrelor in patients with acute coronary syndromes undergoing percutaneous coronary intervention. Intern Med J. 46(5):559–65.
[5] Wallentin L et al. (2009) Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. New Engl J Med. 361(11):1045–57.
[7] Armstrong PC et al. (2017) Newly Formed Reticulated Platelets Undermine Pharmacokinetically Short-Lived Antiplatelet Therapies. Arterioscler Thromb Vasc Biol. 37(5):949–56.