„Entscheidend ist die Immunantwort“
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2020
SARS-CoV-2 löst komplexe Reaktionen von Blutzellen im menschlichen Körper aus. Wie Sysmex Hämatologie- Systeme bei der Diagnose unterstützen können, klärt eine internationale Studie. Ein Interview mit Studienleiter und Sysmex Experte Dr. Jo Linssen sowie ein erstes Fallbeispiel
Interview: Verena Fischer
Die bloße Kenntnis der Zellzahlen aus dem Blutbild trägt noch nicht viel zur Diagnose von COVID-19 bei. Wohingegen bekannte Parameter wie DELTA-He und neue Parameter wie NEUT-RI Aufschluss geben über die Bioaktivität von Zellen und damit über die Immunantwort des Körpers auf die Anwesenheit von Erregern, erklärt Jo Linssen. Der Doktor der Immunologie ist Direktor des Medical Scientific Department von Sysmex EMEA und war führend an einer großen COVID-19-Studie in Italien, Belgien und den Niederlanden beteiligt.
Wie kann ein Blutbild von Sysmex das Management von Infektionen generell unterstützen?
Mikroorganismen, abhängig von Erregertyp, Anzahl des Erregers und Angriffsort im Körper, verursachen Krankheiten unterschiedlichen Schweregrads. Das traditionelle Blutbild, das nur die Zellzahlen bestimmt, kann Diagnose und Prognose nur in Maßen unterstützen. Unser körpereigenes Arsenal zur Bekämpfung von Mikroorganismen ist so mächtig, dass wir von ihm sogar stärker gefährdet werden können als von den Eindringlingen selbst. Es ist bekannt, dass eine Infektion mit Coronaviren einen sogenannten Zytokinsturm auslösen kann. Es ist die Überreaktion unseres Immunsystems auf die Anwesenheit der Erreger, die die schwere Erkrankung verursacht, bis hin zu Organversagen und Tod. Daher kommt der Wunsch, das Immunsystem enger zu monitoren. Die Zellzählung an sich ist weniger geeignet, da sie zu träge ist, um als Monitoring Tool Entzündungsprozesse eng zu überwachen.
Was unternimmt Sysmex, um weitere diagnostische Unterstützung zur Verfügung zu stellen?
Schon seit Jahren versuchen wir, Parameter zu entwickeln, die auch etwas über den funktionalen Status der Zelle aussagen. Zum Einsatz kommt dabei das Messprinzip der Sysmex Systeme, das in Abhängigkeit der Lipidkonzentration der Membran eine Permeabilisierung zulässt und daher bestimmt, wie viel Bioaktivität in der Zelle angefärbt werdenkann. So konnten wir Parameter entwickeln, die das Monitoring des aktuellen Immunstatus zulassen. Neben Parametern, die eine Unreife von Blutzellen (IG, IPF) aufzeigen und die Beurteilung des Infektionsgrads sowie eine Risikoprognose ermöglichen, helfen uns neu entwickelte Parameter, den Status der Aktivität der Neutrophilen (NEUTRI, NEUT-GI), der Monozyten (RE-MONO) und der Lymphozyten (RE-LYMP, AS-LYMP) zu beurteilen. Ein weiterer schnell reagierender Marker für die akute Phase ist DELTA-He, der den Unterschied der Hämoglobinisierung von Retikulozyten und Erythrozyten anzeigt und indirekt eine Monozyten- Aktivierung abbildet.
„Wir haben Parameter entwickelt, die das Monitoring des aktuellen Immunstatus zulassen und eine Beurteilung des Infektionsgrads ermöglichen“
Dr. Jo Linssen
Welche Parameter sind für die Erkennung von schweren bakteriellen Infektionen bedeutsam?
Auf der Intensivstation ist das Monitoring der Immunantwort wichtig, um eine infektiöse Sepsis von einer nicht infektiösen Reaktion zu unterscheiden. Da eine Immunreaktion generell als Begleiterscheinung mit einer Erhöhung der Zellzahlen einhergeht, ist das traditionelle Blutbild allein nahezu nutzlos. Aber der Aktivierungsstatus der Neutrophilen und Monozyten sowie DELTA-He und die Zahl der unreifen Granulozyten (IG) können in der Tat dabei unterstützen, zwischen einer Sepsis und einer nicht infektiösen Immunantwort zu unterscheiden. Da die Immunantwort vom Zeitpunkt der Blutabnahme abhängig ist, müssen wir die Aussagen der Parameter kombinieren, um eine Sepsis ausschließen zu können.
Sie haben eine Studie mit COVID-19-Patienten durchgeführt. Was sind Ihre ersten Erkenntnisse?
Von Ende Februar bis April 2020 haben wir in einer multizentrischen Studie in 13 Krankenhäusern in Italien, Belgien und den Niederlanden 1000 PCRpositive COVID-19-Patienten von Tag eins an im Krankenhaus verfolgt. Unser Ziel war es, einen prognostischen Score mit Parametern aus dem Blutbild zu entwickeln, der vorhersagen kann, wie sich der Gesundheitszustand der Patienten entwickeln wird, welche Patienten einen schweren Krankheitsverlauf nehmen und Intensivpflege benötigen werden. Auch bei COVID-19-Erkrankungen ist es die Immunreaktion, die Organversagen verursachen kann. Das Vorhersagen des Zytokinsturms ist also prognostisch und therapeutisch wichtig.
Gibt es Besonderheiten im Blutbild von COVID-19- Patienten, die in Studien aufgefallen sind?
Abhängig vom Krankheitszeitpunkt präsentiert sich COVID-19 sehr unterschiedlich. Im Gegensatz zu den Neutrophilen (Dominanz bei einer bakteriellen Sepsis) war in den ersten Tagen nach der Krankenhausaufnahme die Aktivierung der Lymphozyten (AS-LYMP) und Monozyten (RE-MONO) deutlich erhöht und dominant, obwohl die Gesamtzahl beider Zellpopulationen erniedrigt oder normal war. DELTA-He zeigte sich deutlich erniedrigt. Im späteren Verlauf zeigte eine Erhöhung der IG eine hohe prognostische Aussage. Die Studie konnte zeigen, dass die COVID-19-Infektion mit deutlichen hämozytometrischen Veränderungen im Zeitverlauf einhergeht. Die Parameter, kombiniert mit einem COVID-19-Prognosewert, können frühzeitig die Patienten identifizieren, die einen schweren Krankheitsverlauf zeigen werden und daher von einer intensiveren Behandlung profitieren können.
Welche Unterschiede im Blutbild zwischen Influenza und COVID-19 gibt es?
Wenn COVID-19 und Influenza keinen Zytokinsturm verursachen, das heißt einen milden Verlauf nehmen, kann man sie schwer voneinander unterscheiden. Eine systemische Entzündung (Zytokinsturm) ist aber bei einer Influenza selten.
Welches Profil eines Blutbilds würden Sie für Intensivstationen generell empfehlen?
Intensivmediziner brauchen ein kontinuierliches Überwachen des Immunstatus. Eine Hyperinflammation braucht eine andere Therapie als Hypoinflammation (Immunparalyse). Neben den Extended Inflammation Parametern (siehe Seite 21), den Aktivierungsmarkern der Monozyten und einer Überwachung der Thrombopoese sind zusätzlich zum HGB Parameter wie DELTA-He und die Retikulozytenzahl hilfreich, um eine Veränderung des Zytokinspiegels zu erkennen. Eine hohe proinflammatorische Zytokinkonzentration unterdrückt die Erythropoese, was zu einem negativen DELTA-He und zu erniedrigten Retikulozytenzahlen führt. Bei der Besserung und somit dem Verlassen der Hyper- Inflammationsphase steigen DELTA- He und Retikulozyten wieder an. Daher macht ein komplettes Profil von großem Blutbild und Retikulozyten, das ja schnell und kostengünstig zur Verfügung steht, ein sinnvolles und kontinuierliches Überwachen des Immunstatus möglich.
„Unser Ziel: ein prognostischer Score aus dem Blutbild, der eine Vorhersage über den Gesundheitszustand der Patienten zulässt“
Dr. Jo Linssen
Wie kann man die Ergebnisse aus den Blutbildern den Ärzten besser zugänglich machen?
Wir arbeiten natürlich daran, dass alle Parameter als diagnostische Parameter zur Verfügung stehen. Bei den Extended Inflammation Parametern wie NEUT-RI, NEUT-GI, RE-LYMP, AS-LYMP und auch bei DELTA-He ist das bereits der Fall. Am Parameter RE- MONO wird aktuell gearbeitet, um ihn als Research-Parameter zu etablieren. Zusätzlich zu den einzelnen Parametern haben wir auch schon in Publikationen gezeigt, dass das Kombinieren von Parametern zu einem diagnostischen oder prognostischen Score eine sinnvolle Unterstützung für die Kliniker sein kann, um die Komplexität der Parameter in der Infektionsdiagnostik zu reduzieren. Wir arbeiten weiter daran.
Weitere Informationen und zusätzliche Daten finden Sie im Themenblatt 1
Summary
- In einer großen Studie in Italien, Belgien und den Niederlanden wurden die Auswirkungen von COVID-19 auf das Blutbild untersucht
- Die Reaktionen des Körpers auf die Anwesenheit der Erregers sind es, die schwere Erkrankungen wie Organversagen verursachen
- Die von Sysmex entwickelten Extended Inflammation Parameter wie NEUT-RI, AS-LYMP und RE-LYMP helfen, den Immunstatus von Zellen zu monitoren und damit die Schwere von Krankheitsverläufen zu prognostizieren
Fotoquelle: Stocksy